Wenn die Kraniche ziehen ...
Der gesamte Zingst im Nordosten der Halbinselkette Fischland-Darß-Zingst ist weitestgehend unbesiedelt, lediglich das Seebad Zingst ist der einzige größere Ort. Die Salzwiesen und seichten Boddengewässer und die Inseln Oie, Kirr sowie Großer Werder und Kleiner Werder sind dadurch ein Paradies für Vögel und einer der bedeutendsten Rastplätze für Zugvögel vor ihrem Weiterflug in den Süden: Im Herbst ( von ca. Ende September bis Ende Oktober ) rasten dort dann bis zu 60.000 Kraniche – ein einzigartiges Naturschauspiel! Die besten Beobachtungsstandorte sind hierfür Pramort ( nur mit dem Fahrrad erreichbar ) oder der Turm bei Müggenburg, auf dem Festland auch Bresewitz.
(Foto: Sauerland-Media, Preikschas)
„Heute seid ihr aber unpünktlich“, scherzt Franz-Dieter Neuhaus. Ungeduldig sucht der Hobby-Ornithologe mit seinem mehrere Tausend Euro teuren Fernrohr den Horizont ab. Jeden Abend postiert sich der Rentner nahe dem mecklenburgischen Dörfchen Bresewitz, einem heißen Tipp unter Vogelfreunden. Plötzlich geht ein Raunen durch die wartenden Menschen. „Sie kommen“, ruft ein kleines Mädchen und deutet aufgeregt in Richtung der untergehenden Sonne. Der glutrote Feuerball scheint Tausende von Kranichen auszuspucken, die sich mit lauten Fanfarenstößen der Küste nähern. Zunächst sind sie nur als schwarze Punkte zu erkennen, die sich wie Perlenschnüre aneinanderreihen.
Kurz darauf gleiten sie wie fliegende Kreuze über die Köpfe der Menschen hinweg, die andächtig verharren. Zwischen dem eindringlichen „Gruh, Gruh“ der Altvögel ist das leise Fiepen der Jungen zu hören. Dann setzen die Vögel zum Landeanflug an. Mit ausgestreckten Füßen und angewinkelten Flügeln trudeln sie ihren Ruheplätzen in den seichten Gewässern und auf den Inseln entgegen. Hier sind sie sicher vor Füchsen und Wildschweinen. Fest zu schlafen scheinen die Vögel nicht, auch nachts ist ihr vielstimmiges Gerufe kilometerweit zu hören.
Die Rügen-Bock-Region, Teil des Nationalparks Vorpommersche Boddenlandschaft, gilt als die wichtigste mitteleuropäische Drehscheibe des Zuges der Grauen Kraniche, einer von weltweit 15 Arten. Mehr als 60 000 Tiere legen im Herbst einen Zwischenstopp ein auf ihrem Weg von den Sommerquartieren in Skandinavien, dem Baltikum und Russland. Rund zwölf Wochen lang schlagen sie sich auf den Feldern die Bäuche voll, bevor sie ihren langen Flug gen Süden fortsetzen. An der ostdeutschen Küste hat sich im Herbst ein regelrechter „Kranich-Tourismus“ entwickelt. Wenn die Badegäste längst heimgekehrt sind, reisen „Ornis“ zu Tausenden aus ganz Europa an.
Kein anderer Vogel hat die Phantasie der Menschen so beflügelt wie der majestätische Vogel, der seit 60 Millionen Jahren unseren Planeten bevölkert. In Asien werden sie als Sendboten des Himmels und als Glücksbringer verehrt. Manche Besucher stehen bereits bei Tau und Tag auf und pirschen sich in der Dämmerung in die Nähe der ruhenden Kraniche. Das frühe Aufstehen belohnt die Vogelfans mit einem eindrucksvollen Naturspektakel. Noch bevor die Sonne aufgeht, brechen die Vögel wie auf ein geheimes Signal hin gleichzeitig auf zu ihren Freßplätzen. Das Schlagen Tausender von Flügeln erinnert an den Lärm eines rasenden Schnellzugs. Bis zu 25 km weit fliegen die Kraniche in das Hinterland und fallen in Scharen über die Felder her. Ihr lautes Trompeten mischt sich mit dem Geschnatter Zehntausender Wildgänse, die hier gleichfalls Rast machen. Bis zu 300 Gramm verputzt der bis zu 1,30 Meter große Kranich am Tag, um sich ein Fettpolster anzufressen – Treibstoff für den Flug in den Süden.
Die Wende hat den Vögeln zunächst kein Glück gebracht. Aufgrund der modernen Erntemaschinen blieben immer weniger Körner liegen. Um so häufiger machten sie sich zum Ärger der Bauern über die neue Wintersaat her. Die Landwirte erhalten inzwischen Entschädigungen oder locken die Tiere durch subventionierte „Ablenkfütterungen“ weg von ihren Feldern. Nun dürfen die Vögel auf bestimmten Flächen nach Herzenslust schlemmen, ohne verscheucht zu werden.
„Wenn sich im November der Winter mit den ersten Nachtfrösten ankündigt, brechen die Tiere auf in wärmere Gefilde. Dann ist mir zum Weinen zu Mute“, bekennt Hoteliersfrau Claudia Brondke. Auch Petra Müller trauert. „Wenn sie weg sind, fehlt mir was“, erzählt die Verkäuferin. Eine tröstende Erklärung für den Kranichzug gen Süden haben einst nordamerikanische Indianer gefunden. Sie glaubten, daß die dort beheimateten Kanada-Kraniche davonfliegen, um den Frühling zurückzuholen. Die europäischen Grauen Kraniche (lateinisch: Gurs grus) machen sich in Südeuropa und Nordafrika auf die Suche nach dem Frühling. Den langen Hals weit nach vorne gereckt und mit waagerecht nach hinten weisendem „Fahrwerk“ erreichen sie bis zu 80 Kilometer in der Stunde. 2000 Kilometer nonstop können Kraniche mit ihrem langsamen und kräftigen Flügelschlag zurücklegen. Bei ihrem Langstreckenflug nutzen sie Thermik und Winde, um Kraft zu sparen. Sie schließen sich zu großen „Geschwadern“ zusammen und schreiben mit ihren Körpern ein riesiges V an das Firmament. Sicher geleiten die Altvögel ihre Jungen ans Ziel, mit lauten Rufen verständigen sie sich untereinander. Den anstrengendsten Job hat der Vogel an der Spitze. Meistens ist es ein starkes und erfahrenes Männchen, das nach getaner „Führungsarbeit“ abgelöst wird und sich wie ein Radprofi in den Windschatten der anderen zurückfallen läßt. Nach ihrer anstrengenden Reise verbringen die meisten europäischen Kraniche ihren „Winterurlaub“ in der parkähnlichen Landschaft der spanischen Extremadura.
Von Ulrich Willenberg/ Braunschweiger Zeitung/ 9. September 2006
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